Künstliche Intelligenz ist bereits jetzt im medizinischen Kontext nicht mehr wegzudenken. Gerade in Zeiten einer globalen Pandemie kann die Digitalisierung und Verschlankung von Prozessen im Gesundheitswesen dabei unterstützen, wertvolle Ressourcen zu sparen und Überlastungen abzufedern, beispielsweise durch den Einsatz von telemedizinischen Anwendungen wie digitale Sprechstunden und intelligente Operationsplanung. Dadurch ergeben sich völlig neue Potenziale – aber auch Herausforderungen – für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz.
Entscheidungsunterstützung in der Notfallversorgung durch Künstliche Intelligenz
Im Forschungsprojekt LOTTE (»Leitsystem zur Optimierung der Therapie traumatisierter Patienten bei der Erstbehandlung«) haben wir das Themengebiet der Notfallversorgung von schwerverletzten Patientinnen und Patienten in den Fokus genommen. In Deutschland gibt es jährlich mehr als 2,6 Millionen Verkehrsunfälle, bei denen es zu fast 400.000 Verletzten, darunter 68.000 Schwerletzten und mehr als 3.200 Verkehrstoten, kommt. Zu den Schwerverletzten hinzu kommen Arbeits-, Schul-, Sport- und Freizeitunfälle, sodass statistisch 12 Prozent der deutschen Bevölkerung in einem Jahr einen Unfall erleidet. Vom Unfallort werden Schwerverletzte durch einen Rettungswagen (RTW) oder Rettungshubschrauber (RTH) in ein Krankenhaus transportiert. Dort werden lebensgefährlich Verletzte und sogenannte »Polytrauma«-Patient*innen, die mehrfach und lebensbedrohlich verletzt wurden, in einem speziell eingerichteten Schockraum unverzüglich behandelt.
Ziel des Projekts war die Entwicklung und Bewertung von Einsatzszenarien für Künstliche Intelligenz und Big Data, um die Behandlungsqualität zu verbessern. Gemeinsam mit unseren interdisziplinären Partnern aus den Bereichen Unfallchirurgie, Medizinökonomie und Rechtswissenschaft untersuchten wir im Detail die Datenströme und Entscheidungen, die in der Behandlung von Schwerverletzten eine Rolle spielen. Dabei wurde schnell klar, dass dieses Themengebiet mehrere Besonderheiten aufweist, die bei der Entwicklung von KI-Systemen unbedingt beachtet werden müssen.
Herausforderungen bei der Schwerverletzten-Behandlung
Die Versorgung von schwerverletzten Personen ist sehr komplex und erfolgt unter hohem Zeitdruck. Ein ganzes Team aus den Bereichen der Unfallchirurgie, Anästhesie, Neurologie, Radiologie und Pflege entscheidet gemeinsam über Maßnahmen und Eingriffe. Dennoch erliegen in Deutschland ca. 14 Prozent aller Schwerverletzten ihren Verletzungen.
Die Menge an kontinuierlich neuen Informationen verschiedenster Art, die Notwendigkeit medizinischer Interventionen und die hohe zeitliche Dynamik sowie Ungewissheit machen Entscheidungen für das Schockraum-Team herausfordernd. Im Detail lassen sich die folgenden Schwerpunkte identifizieren:
- Datenlage: Während der Behandlung einer schwerverletzten Person muss das Schockraum-Team eine große Menge an unterschiedlichen Daten zu Unfallhergang und Vitalstatus aufnehmen und Entscheidungen treffen.
- Kommunikation: Ein diverses Team aus den Bereichen Unfallchirurgie, Anästhesie, Neurologie, Radiologie und Pflege entscheidet gemeinsam über Maßnahmen und Eingriffe.
- Zeitintensität: Entscheidungen müssen unter Zeitdruck getroffen werden, um dauerhafte Schäden oder den Tod der verletzten Personen zu verhindern.
Ansatzpunkte für Methoden der Künstlichen Intelligenz
Im Rahmen des Projektes LOTTE wurden sechs Szenarien entwickelt, die an unterschiedlichen Zeitpunkten entlang des Behandlungspfades ansetzen und verschiedene Technologie-Architekturen des Maschinellen Lernens integrieren:
- Intelligente Alarmierungskette: Das Telefonat zwischen Notarzt und Leitstelle wird automatisch in Datensätze umgewandelt und steht dem Schockraum-Team bereits vor Eintreffen der Patient*innen zur Verfügung. Hierfür werden Verfahren aus dem „Natural Language Processing“ (NLP) eingesetzt.
- Semiautomatische Sprachdokumentation: Damit es bei der Übergabe von Notarzt zum Schockraum-Team zu keinerlei Informationsverlust kommt, zeichnet ein System die Übergabe auf und erstellt daraus automatisch ein strukturiertes Protokoll.
- Trajektorien-Klassifikation: Das System berechnet eine objektive und quantitative Einschätzung der Komplexität des vorliegenden Falls und des erwarteten Verlaufs. Das Ergebnis wird durch die Schockraum-Leitung abgerufen und dem gesamten Schockraum-Team digital visualisiert zur Verfügung gestellt.
- Smartes Leitlinieninterface: Nach Eingabe der Fallparameter bietet das System eine Visualisierung des leitlinienkonformen Behandlungsablaufs sowie fallspezifischer Behandlungsempfehlungen.
- Literatur-Mining: Hierbei handelt es sich um eine semantische Suche für die unzähligen Dokumente der medizinischen Literatur. Durch Eingabe von Fallparametern kann das Team Informationen über seltene oder unbekannte Krankheitskonstellationen recherchieren.
- OP-Risikoabschätzung: Vor einer möglichen Operation wird das individuelle Risiko der Patient*innen für mehrere Komplikationstypen (zum Beispiel Sepsis oder akutes Nierenversagen) berechnet und unterstützt dadurch die Entscheidungsfindung zum Ergreifen einer operativen Maßnahme.
KI-Absicherung und rechtliche Fragestellungen
Die Implementierung von Systemen mit Künstlicher Intelligenz im medizinischen Kontext bringt neben großen Chancen ebenfalls neue Herausforderungen. So muss für jede im medizinischen Umfeld eingesetzte Software der Datenschutz und eine Absicherung der Funktionalität mitgedacht werden. Ebenso sollten die Vorschläge eines automatischen Systems für die Anwenderinnen und Anwender nachvollziehbar sein, sodass Fehler oder Benachteiligungen frühzeitig erkannt und vermieden werden können. Wird die Nutzung von KI-Systemen zur Normalität, muss auch ein „Automation Bias“ verhindert werden, bei dem ein zu großes Vertrauen in das System eine kritische Überprüfung der Ausgaben verhindert (siehe auch den Blogbeitrag: Der Weg zur abgesicherten KI).
Zukünftige Bedeutung von Künstlicher Intelligenz im Krankenhaus
Die außerordentlichen gesellschaftlichen und politischen Veränderungen im Gesundheitswesen, zu denen unter anderem der demografische Wandel, eine gestiegene Personalnot sowie ein erhöhter Leistungsanspruch von Patient*innen gehören, können nur mit Hilfe von digitalen Lösungen bewältigt werden. Personalisierte Medizin, seltene Erkrankungen und das Bevölkerungswachstum verändern zusätzlich den Arbeitsalltag des qualifizierten Personals. Speziell Krankenhäuser und Kliniken haben mit der Notfallversorgung von Schwerverletzten eine besondere Aufgabe und müssen diese in Zukunft durch intelligente technologische Unterstützung angehen. Perspektivisch muss sich das Gesundheitssystem strategisch und strukturell so aufstellen, dass KI-Methoden sinnvoll und souverän in die Arbeitsabläufe integriert werden und dabei sowohl Patient*innen als auch das Personal mitgedacht werden.
Projektpartner: Wir möchten unseren Projektpartnern für die Zusammenarbeit danken: Der Lehrstuhl für Management und Innovation im Gesundheitswesen sowie der Lehrstuhl für Unfallchirurgie und Orthopädie an der Universität Witten/Herdecke sowie das Institut für Rechtsinformatik (IRI) von der Leibniz Universität Hannover. Wir danken außerdem dem Krankenhaus Merheim der Kliniken Köln für die Unterstützung.
Mehr Informationen in der zugehörigen Publikation:
D. Antweiler, K. Beckh, J. Sander, S. Rüping: Künstliche Intelligenz im Krankenhaus: Potenziale und Herausforderungen – Eine Fallstudie im Bereich der Notfallversorgung, 2020, PDF.