Lernpfade (digital) begleiten: Intelligente Tutorielle Systeme

|In aktuellen Debatten wird der KI-Einsatz im Unterricht diskutiert. Dabei können Intelligente Tutorielle Systeme Lehrkräfte und Lernende unterstützen.
|Abbildung 1: Die Lernendenansicht des Lynnette Tutors mit den charakteristischen Tutoring-Funktionen © CAIS

Im Bereich der Bildung hat die Synergie zwischen Technologie und Pädagogik zu neuen Ansätzen geführt, die es erlauben, die traditionellen Praktiken des Klassenzimmers neu zu gestalten. Dabei ist Künstliche Intelligenz zunehmend präsent, wird aber in der Bildung unterschiedlich und längst nicht flächendeckend eingesetzt. Eine Sorge, die in der Diskussion um Künstliche Intelligenz häufig mitschwingt, ist, dass solche Systeme intransparente und nicht mehr nachvollziehbare Entscheidungen treffen. Um dieser Sorge entgegenzuwirken, ist es notwendig zu verstehen, wie solche Systeme funktionieren. In diesem Beitrag stellen wir Intelligente Tutorielle Systeme vor und erklären, wie Lernen mithilfe dieser Tutorensysteme personalisiert werden kann. Durch Personalisierung können Lernende individuelle Lernpfade beschreiten, obwohl alle dasselbe Lernziel verfolgen. So können Lehrkräfte mithilfe Intelligenter Tutorieller Systeme auch in großen und heterogenen Lerngruppen personalisiertes Lernen ermöglichen.

Intelligente Tutorielle Systeme

Intelligente Tutorielle Systeme (ITS) werden seit den 80er Jahren eingesetzt, um das Lernen in unterschiedlichen Anwendungsdomänen zu unterstützen. Insbesondere in den USA wurden Intelligente Tutorielle Systeme für unterschiedliche Anwendungsdomänen, unter anderem Physik (AutoTutor, Graesser et al., 2005) und Mathematik (MathTutor, Carnegie Mellon University, 2009-2023) entwickelt und in Schulen eingesetzt. In zahlreichen groß angelegten Studien in den USA konnte gezeigt werden, dass der Einsatz von Intelligenten Tutoriellen Systemen die Leistung bei Lernenden steigern kann (z.B., Kulik & Fletcher, 2016; VanLehn, 2011).

Das Kernmerkmal solcher Systeme ist ihre Funktion, jedem Lernenden, basierend auf der Analyse des Lernstands (Issing & Klimsa, 2002), individuell und passgenau Rückmeldung zu geben bzw. Lerninhalte anzubieten. Diese Adaptivität ist wichtig, da sie berücksichtigt, dass Lernende unterschiedliche Unterstützungsbedarfe haben, die sich auch auf individueller Ebene über den Lernprozess hinweg verändern können. Tutorensysteme können dabei sowohl das Wissen als auch verwendete Strategien, die Selbstregulierung der Lernenden oder die Motivation adressieren (Aleven et al., 2017). Die Unterstützung erfolgt „just in time“, also genau im richtigen Moment während des Lernprozesses. Die Idee dahinter: Lernende lernen am besten, wenn sie von einem/r Tutor*in (Lernbegleiter*in) unmittelbar Rückmeldung erhalten. Dies kann beispielsweise in Form von Hinweisen geschehen, wie: „Du hast auf beiden Seiten der Gleichung Konstanten. Wie kann man alle Konstanten auf der linken Seite und keine auf der rechten Seite haben?“. Aber auch Rückmeldungen in Folge einer fehlerhaften Eingabe sind möglich, wie z. B.: „Es fehlt ein Gleichheitszeichen. Achte darauf, die gesamte Gleichung einzugeben.“ (siehe Abbildung 1).

Dabei geht es nicht darum, die Lehrkraft zu ersetzen, sondern dort eine eins-zu-eins Rückmeldung zu ermöglichen, wo Personalisierung und Differenzierung andernfalls nur schwerlich möglich sind – etwa in großen Lerngruppen oder beim Üben zuhause. Dort können Lehrkräfte Intelligente Tutorielle Systeme nutzen, um individuelles Lernen zu realisieren und dabei den Überblick zu behalten, sodass sie gezielt pädagogisch-didaktisch intervenieren können. 

Lernermodell als Grundlage tutorieller Entscheidungen

Beim Lernen mit Intelligenten Tutoriellen Systemen bearbeiten Lernende Aufgaben, bei denen sie aufeinanderfolgende Schritte durchlaufen müssen. Während sie diese Schritte durchlaufen, erhalten die Lernenden automatische Rückmeldungen zur Richtigkeit ihrer Eingaben wie Rechenschritte oder Antworten. Zudem kann das System auf Anfrage oder automatisch zusätzliche Hinweise geben, wie sich eine Aufgabe richtig lösen lässt bzw. wie Fehler korrigiert werden können. 

Der Schlüssel zur passgenauen Rückmeldung liegt in der Modellierung des Lernendenverhaltens, dem sogenannten Lernermodell (Learner Model). Anhand des Lernermodells kann das System abschätzen, welche Wissenskomponenten bereits erworben wurden und welche noch gelernt werden müssen. Ein typisches Intelligentes Tutorielles System umfasst neben dem Lernermodell zudem ein Expertenmodell (Expert Model), ein Tutormodell (Tutor Model) und eine Schnittstelle (Interface) (Nwana, 1990). Das Expertenmodell bildet den Wissensraum aus einer bestimmten Anwendungsdomäne ab. Es stellt den Wissensstand dar, den die Lernenden am Ende ihres Lernprozesses erreichen müssen und hilft somit dabei, durch Abgleich mit vorher definierten Regeln Fehler der Lernenden zu erkennen. Das Tutormodell bildet die didaktische Grundlage für die Rückmeldung an den Lernenden, beispielsweise durch alternative Lernstrategien. Mithilfe des Tutormodells kann das System in Abhängigkeit vom Lernstand Aufgaben auswählen bzw. passgenaue Rückmeldung geben. Über die Schnittstelle, sprich die Ansicht der Lernenden, werden Aufgaben in einem didaktisch sinnvollen Format repräsentiert. Dies können Multiple-Choice-Aufgaben sein, aber auch Simulationen oder Chat-Dialoge. 

Adaptivität von Tutorensystemen am Beispiel „Lynnette“

Auf Basis der Lernermodelle und mit Hilfe von Verfahren aus dem Bereich des Maschinellen Lernens bieten intelligente Tutorsysteme ein dynamisches Gerüst aus kontextbezogenen Hinweisen, Hilfen und Rückmeldung, das die Lernenden Schritt für Schritt durch die Aufgaben führt. Dabei werden das individuelle Wissen und dessen Anwendung auf Aufgaben mit dem Ziel analysiert, die Entwicklung der einzelnen Wissenskomponenten zu fördern. Ein frei verfügbares Intelligentes Tutorielles System für das Lösen von Gleichungen ist Lynnette.  Es wurde von den Wissenschaftler*innen an der Carnegie Mellon University in den USA entwickelt und ist über MathTutor öffentlich zugänglich. Lynnette wurde für den Mathematikunterricht konzipiert und ist ein Tutor für das Lösen von Gleichungen. Es bietet schrittweise Anleitung, z. B. Hinweise, Rückmeldung zur Korrektheit der eingegebenen Lösung, Fehlerrückmeldung und adaptive Problemauswahl. 

In aktuellen Debatten wird der KI-Einsatz im Unterricht diskutiert. Dabei können Intelligente Tutorielle Systeme Lehrkräfte und Lernende unterstützen.
Abbildung 1: Die Lernendenansicht des Lynnette Tutors mit den charakteristischen Tutoring-Funktionen © CAIS

Model-Tracing und Knowledge-Tracing

In Intelligenten Tutoriellen Systemen wie Lynnette gibt es zwei technische Verfahren, die eingesetzt werden, damit das System seine Reaktionen an das Verhalten der Lernenden anpassen kann – Model-Tracing und Knowledge-Tracing.

  1. Model-Tracing ermöglicht die Erfassung der individuellen Herangehensweise an ein Problem und die Nachverfolgung der Lösungsschritte. Sollten Lernende dabei Lösungsschritte verfolgen, die auf ein typisches Fehlkonzept schließen lassen, kann der Tutor beispielsweise durch korrigierendes Feedback reagieren.
  2. Durch Knowledge-Tracing wird der aktuelle Lernstand erfasst und es findet eine Bewertung der Lernleistung statt, worauf mit adaptiver Auswahl an neu zur Verfügung gestellten Aufgaben reagiert werden kann. Dabei wird der Lernfortschritt, konkret die Beherrschung spezifischer Wissenskomponenten, auf der Grundlage von Interaktionen mit Lernaufgaben erfasst und bewertet. Dadurch kann durch das tutorielle System eine personalisierte, d.h. dem Lernstand und Lerntempo entsprechende Aufgabenauswahl erfolgen. Dies kann sowohl den Schwierigkeitsgrad betreffen, aber auch das Wiederholen oder Überspringen entsprechender Aufgaben bedeuten. Folglich wird gleichsam das Lerntempo angepasst (Aufgabenauswahl basierend auf dem Lernfortschritt) und jeder Lernende erhält das richtige bzw. angemessene Maß an Übung für alle Wissenskomponenten der durch den Tutor abgedeckten Wissensdomänen. 

Ausblick: Intelligente Tutorielle Systeme und die Herausforderungen der Personalisierung

Intelligente Tutorielle Systeme ermöglichen es Lernenden, bei selben Lernzielen individuelle Lernpfade zu beschreiten. Lehrende erhalten durch die Verfolgung sowie Analyse der Lernpfade lernbegleitend Einblicke in den Lernprozess. Dadurch können Lehrende insbesondere in großen und/oder heterogenen Lerngruppen sowie beim Üben zu Hause personalisiertes Lernen und differenzierten Unterricht anbieten, indem sie intelligente Tutoren gezielt einsetzen. Der effektive Einsatz Intelligenter Tutorieller Systeme setzt voraus, dass es evaluierte Tutorensysteme gibt, die die Curricula abbilden. Es ist also erforderlich, dass diese Systeme kontinuierlich überprüft und angepasst werden, um sicherzustellen, dass sie die definierten Teilkompetenzen in den jeweiligen Wissensbereichen adäquat abdecken. Zurzeit ist die Entwicklung unter Berücksichtigung der Qualitätsstandards immer noch sehr zeit- und kostenintensiv. Jedoch konnten in den letzten Jahren enorme Fortschritte erzielt werden. Die Wissenschaftler*innen an der Carnegie Mellon University, einschließlich des Teams hinter Lynnette, haben beispielsweise CTAT entwickelt. CTAT ist ein Autorensystem, das es Wissenschaftler*innen ermöglicht, Intelligente Tutorielle Systeme auch ohne umfassende Programmierkenntnisse zu erstellen. Zudem entstehen zunehmend hybride Formen der Adaptivität, die verschiedene psychologische Aspekte, wie beispielsweise Affekte und Motivation, das Wissen sowie Lernwege und -strategien berücksichtigen und kombinieren. Dafür braucht es aber weiterhin evidenzbasierte Forschung, um Automatisierung und KI in der Bildung dort einzusetzen, wo es didaktisch sinnvoll ist.

Referenzen:

  • Aleven, V., McLaughlin, E. A., Glenn, R. A., & Koedinger, K. R. (2017). Instruction based on adaptive learning technologies. In R. E. Mayer & P. Alexander (Eds.), Handbook of Research on Learning and Instruction (pp. 522-560). New York: Routledge.
  • Graesser, A.C., Chipman, P., Haynes, B., Olney, A. (2005) AutoTutor: An Intelligent Tutoring System with Mixed-initiative Dialogue. IEEE Transactions in Education 48, 612–618. http://dx.doi.org/10.1109/TE.2005.856149
  • Issing, L. J., & Klimsa, P. (2002). Information und Lernen mit Multimedia und Internet. Weinheim, BeltzPVU.
  • Kulik, J. A., & Fletcher, J. D. (2016). Effectiveness of intelligent tutoring systems: A meta-analytic review. Review of Educational Research, 86(1), 42–78. https://doi.org/10.3102/0034654315581420
  • Nwana, H. S. (1990). Intelligent Tutoring Systems: An Overview. Artificial Intelligence Review, 4, 251-277. https://doi.org/10.1007/BF00168958
  • Ritter, S., Anderson, J. R., Koedinger, K. R., Corbett, A. (2007) Cognitive Tutor: Applied Research in Mathematics Education. Psychonomic Bulletin & Review, 14, 249-255. https://doi.org/10.3758/BF03194060
  • VanLehn, K. (2011). The relative effectiveness of human tutoring, intelligent tutoring systems, and other tutoring systems. Educational Psychologist, 46(4), 197–221. https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/00461520.2011.611369

Ann-Christin Falhs, Astrid Wichmann, Nikol Rummel, Center of Advanced Internet Studies (CAIS),

27. September 2023

Themen

Ann-Christin Falhs

Ann-Christin Falhs ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Ruhr-Universität Bochum (RUB) am Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie und Bildungstechnologie und assoziierte Forscherin im Forschungsprogramm Bildungstechnologien und Künstliche Intelligenz am Center for Advanced Internet Studies (CAIS). Sie forscht zu digitalen Innovationen im Klassenzimmer mit dem Fokus auf der Unterstützung von Lehrkräften durch eben diese Systeme.

Dr. Astrid Wichmann

Astrid Wichmann ist Wissenschaftsmanagerin am Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie und Bildungstechnologie der RUB sowie im Forschungsprogramm Bildungstechnologien und Künstliche Intelligenz am CAIS. In ihrer Rolle unterstützt sie Wissenschaftler*innen durch die Vorbereitung von Vorträgen, Anträgen sowie Begutachtung wissenschaftlicher Manuskripte, die Organisation wissenschaftlicher Veranstaltungen und vieles mehr. Zudem setzt sie sich für die Vermittlung von grundlegenden Informatikkonzepten und Programmieren an Grundschulen ein.

Prof. Dr. Nikol Rummel

Nikol Rummel ist Professorin für Pädagogische Psychologie und Bildungstechnologie an der RUB. Derzeit ist sie abgeordnet ans CAIS und leitet dort das Forschungsprogramm Bildungstechnologien und Künstliche Intelligenz. Zudem ist sie assoziierte Professorin an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh, USA. Sie forscht seit vielen Jahren mit den hier genannten Intelligenten Tutoriellen Systemen insbesondere im Bereich des kooperativen Lernens.

Center of Advanced Internet Studies (CAIS)

Das Forschungsprogramm „Bildungstechnologien und Künstliche Intelligenz“ am Center for Advanced Internet Studies (CAIS) nahm seine Arbeit im Juni 2022 auf. Nikol Rummel, Professorin für Pädagogische Psychologie und Bildungstechnologie an der Ruhr-Universität Bochum, leitet das Programm für die nächsten fünf Jahre. Für ihre Zeit am CAIS wird sie von der Ruhr-Universität freigestellt. Das Team untersucht unterschiedliche Aspekte der Digitalisierung im Bildungsbereich. Die Forschungsschwerpunkte liegen dabei zum einen auf der Frage, wie […]

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